Warum wir fechten

Aus dem Buch von J. Christoph Amberger: “The Secret History of the Sword: Adventures in Ancient Martial Arts” (Burbank, California: Multi-Media Books, 1999). Mehr Informationen zu diesem Buch gibt es hier.

"Ich bin Mitte 40, verheiratet, mit drei tollen Kindern. Seit 1989 lebe ich in den USA. Seit 1995 leite ich die Finanzgruppe eines größeren amerikanischen Verlags. Und zwischen 1985 und 1988 war ich aktiv in Berlin und Göttingen.

In dieser Zeit focht ich sieben Mensuren. 

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Die Atmosphäre ist archaisch; beklemmend; dein Puls hämmert in Anflügen von kaum zurück zu kämpfender Panik. Die Halsbinde liegt wie die Finger einer Riesenfaust um Deine Kehle, so eng, dass jeder Herzschlag spürbar mit jedem Versuch, zu schlucken, kollidiert ... Bewegung! Schnallen werden zugezurrt, Bänder festgezogen, und plötzlich bist du auf dem Weg durch eine Menschenmenge: Gesprächsfetzen und Zigarettenrauch. Magendrehen und Herzflattern. Stühle rücken und Türenknallen ...

Dann hast du plötzlich drei Fuß geschliffenen Stahl in der Hand und siehst deinem Gegenüber in die Augen. Augenlider flattern unter der Gitterbrille. Der Nasenschutz steht wie der Schnabel eines Raubvogels gegen dich. Und du erkennst, dass der Mann gegenüber unter demselben Druck steht wie du – bereit, alles Nötige zu tun, um nicht mit dem bedrohlichen Stahl in deiner Hand in Kontakt zu kommen... Der Unparteiische bittet um Ruhe. Dein Sekundant verschwindet aus deinem Blickfeld. Du siehst nur noch die Augen, den Schläger des Gegners... hörst die bellenden Kommandos der Sekundanten: "Hoch bitte!" "Fertig!" "Los!"

An und für sich ist die Mensur kein Anlass für kollektive Rechtfertigungen, Erklärungen und Rationalisierungen. Hier geht's primär um individuelles Erleben und Bestehen einer selbstauferlegten Extremsituation: Im Moment des Anhiebs ist alles andere vergessen. Die subjektive Wahrnehmung von Zeit klickt schlagartig auf Dali's "Schmelzende Zifferblätter" um. Deine Welt kontraktiert um den rotierenden Korb des Gegenpaukanten, um das rasende Zusammenprasseln von Klingen und Stulpen. In diesem Moment gibt's für den Fechter kein "für das Corps" mehr.

Jede Mensur, die in Deutschland, Österreich und der Schweiz gefochten wird, repräsentiert eine allein stehende, tiefe persönliche Erfahrung, die für jeden aktiv Beteiligten eine andere, individuelle Bedeutung hat. So trage ich die Folgen meiner Mensuren wenn nicht mit Stolz, dann doch mit Fassung, als bleibende, zum integralen Teil meiner Persönlichkeit gewordene Spuren einiger mir durch ihre drastische und fast überlebensgroße Intensität wohl für immer im Gedächtnis bleibenden Erlebnisse.

Es ist halt nicht ganz von Ungefähr, dass die Corps es über die Jahrhunderte fertigbrachten, junge Männer aller Nationalitäten, Stände, Glaubensbekenntnisse und politischer Überzeugungen in lebenslange Freunde zu verwandeln ... in "Wahlverwandtschaften", denen generationsübergreifend eine gemeinsame Erfahrung – die der Extremsituation Mensur – zugrunde liegt. Man hört immer wieder, dass Außenseiter die Mensur als antiquierte, nicht zeitgemäße, elitäre "Mutprobe" abwerten, welche der betreffende Nichtkorporierte zumeist dünkelt, selbst "nicht nötig" zu haben. Doch der Kern einer Mutprobe ist, dass man natürliche oder soziale Hemmungen kurzfristig überwindet und sich einer mehr oder weniger kontrollierbaren Kraft übergibt (sei's auch bloß der Schwerkraft am Ende eines Gummiseils).

Die Mensur jedoch ist Dauerbelastung mit kalkuliertem, bewusst begrenztem Risiko – ein innerer Belagerungszustand, aus dem sich der Beteiligte nur durch intensivste Anstrengungen von Geist und Körper herausarbeiten kann und muss. Es geht um die Meisterung der Furcht. Heutzutage wird der Mensur so ziemlich jede negative Emotion nachgesagt, die der domestizierten Herdenpsyche bedrohlich erscheint: Aggression, Imponiergehabe, Männlichkeitsgebaren. Sogar der Hass wurde vom Amerikaner Peter Gay programmatisch als Titel für sein Buch "The Cultivation of Hatred" eingespannt, in dem er ein langatmiges Kapitel den deutschen Corps und der Mensur der Kaiserzeit widmet. Doch die einzige Emotion, die dem Fechter im Moment der Konfrontation bewusst wird, ist Furcht. Furcht vor der Klinge des kaum als Individuum wahrgenommenen Gegenpaukanten. Furcht vor der möglichen Verletzung. Aber ganz besonders Furcht vor Gesichtsverlust – im wörtlichen und übertragenen Sinn.

Befragungen von ganz normalen Menschen haben ergeben, dass für viele die Angst vor dem öffentlichen Reden die Angst vorm Sterben noch überflügelt. Die Mensur verschärft die Ausgangssituation dieser Angst noch um ein paar Grade: Du stehst im Zentrum einer Menge, mit fünfzig, hundert Paaren von kritischen Augen, die auf dich (und dich allein) gerichtet sind. Diese Menge von Augen sieht jede Bewegung, jedes Zucken, jede Klingenaktion, weiß diese zu werten und zu bewerten. Und jedem Fehler, den du machst, folgt mit fast mathematischer Notwendigkeit eine unumgehbare Konsequenz: auf Technikfehler folgen Schmisse, auf Fehler in Haltung und Moral folgt die moralische Abfuhr, die deine Corpsbrüder aussprechen. So wie sie sich auch deinem Urteil stellen, wenn sie dort stehen.

Der Zweck der Mensur liegt nicht in der Überwindung des Gegenpaukanten ... nicht einmal im Beweis, dass einer über mehr Fechttalent, mehr Kraft, bessere Nerven oder mehr Ausdauer verfügt als der andere (wie es in einem sportlichen Wettkampf der Fall wäre). Denn es gibt bei der Mensur weder Gewinner noch Verlierer, keine Sieger und keine Besiegten.

Der Sinn der Mensur liegt in der Überwindung des vegetativen Ichs, der Überwindung der Furcht durch die Selbstkontrolle und das Durchhalten des wachen Geistes. Im Kern ist die Mensur ein relativierendes Extremerlebnis: Jede Partie packt so viel Stress, Druck und – am Ende – kathartische Erleichterung, dass viele der "anderen" Hochstresssituationen des Lebens – Prüfungen, Examen, Präsentationen, Verhandlungen – stark an subjektiver und realer Bedrohlichkeit einbüßen. Wenn dieses Relativieren von Stresssituationen und die daraus resultierende Aufwertung des Selbstwertgefühls von Außenstehenden als Arroganz aufgefasst wird – und damit das populäre Bild vom Corpsstudenten als "elitär", versnobt und überheblich prägte –, mag das schon der Fall sein. Jedoch ist es auch eben diese persönlichkeitserweiternde Einstellung, die dem Einzelnen als Treibkraft im späteren Berufsleben zu überdurchschnittlichen Erfolg verhelfen kann. Denn die Mensur räumt mit Selbsttäuschung auf. Sie reduziert dich auf deine primäre Persönlichkeit, entdeckt dir deine Schwächen und Ängste. Doch sie gibt dir gleichzeitig die freie Wahl und die Mittel, dich diesen zu stellen und gegen sie zu bestehen – und diese grundlegende Erfahrung des Bestehens aus eigener Kraft im weiteren Leben anzuwenden.
Bei allem subjektiven Erleben der Extremsituation Mensur sollte allerdings nicht vergessen werden, dass das System des Schlägerfechtens eine sehr herausfordernde und besonders in den höheren Qualifikationsebenen sehr ästhetisch ansprechende Variante der alten europäischen Fechtsysteme darstellt. Immerhin verbringst du vielleicht alles in allem eine Stunde deines Lebens "auf Mensur".

Dafür aber einige hundert Stunden pro Semester beim Training ("Pauken"). Neben der Beherrschung der Grundtechniken muss man eine intuitive Bewertung extrem schnell vor sich gehender Gefechtsabläufe entwickeln, ... ein Verständnis von Fecht-"Zeit" und Rhythmus erreichen und, darauf basierend, die Applikationen der Grundtechniken variieren, kombinieren und improvisieren lernen. Die Freude an der sportlichen Betätigung des akademischen Fechtens – selbstverständlich mit Fechthelm und stumpfen Klingen! – lässt sich weit über die Aktivenzeit forttragen."